Untrennbar verbunden: Ausführung und Inhalt im Künstlerbuch

Es ist ein entscheidender Wesensunterschied zwischen dem verlegerischen Produkt und dem Künstlerbuch.

Das Verlagswerk präsentiert den Text, mitunter sind da Einführungen oder Kommentare, Nach- und Vorworte.

Das Künstlerbuch unterscheidet sich davon grundlegend. Das Künstlerbuch unterscheidet sich davon grundlegend. Sie ist der Keim, aus dem heraus die Konzeption wächst und sich entwickelt. Alle Elemente, die in das Werk einfließen, das Material, die Form, die Funktionalität ergeben in Zusammenklang mit dem Inhalt ein Gesamtwerk – ein stimmiges Ganzes. Kern und Ausgangspunkt ist der Inhalt, die Konzeption platziert ihn in seinem ganz speziellen Kontext.

Das Werk „Mir fehlt ein Wort“ ist eine Hommage an den großen Autor und Essayisten, und sie ist eingebunden in die Zeit, in der er lebte und arbeitete. Das Buch zeigt exemplarisch den Ansatz in meinem künstlerischen Schaffen: der gemeinsame Nenner meiner Werke, sozusagen die künstlerische Handschrift, liegt im Inhaltlichen und seiner Konzeption, nicht unbedingt in einem visuellen Gestaltungsstil.

Das Künstlerbuch besteht durchgängig aus Makulaturen, also aus fehlerhaften Druckbogen. Es enthält rund 60 Texten von Tucholsky. Gebunden sind die Bogen und Schnipsel in der Preußischen Archivheftung, ein historisches Verfahren, mit dem einst in Preußen die Akten für die Archive geheftet wurden. Diese Heftung erlaubte das Herausnehmen von Dokumenten zum Zwecke einer Abschrift, und später das Wieder-Einheften.

Der Umschlag ist aus klassischem Aktenkarton gefertigt. Die Bogen sind mit nassklebenden, ausgebleichten Etiketten markiert und im Stil einer Behörde bestempelt. Die Mappen liegen in Kartons mit Nummern, als wären sie für den Archivbestand erfasst. Der Kern der Geschichte ist, dass aus einer Sammlung bemerkenswerter Texte eines politisch verfolgten Autors, ein Beweismittel wird, mit dem das Regime den Autor loswerden kann.

In ihrem Buch „The Century of Artists‘ Books“ schreibt Johanna Drucker: „Künstlerbücher sind praktisch immer Werke, die sich ihrer Struktur und Bedeutung als Buch bewusst sind.“ Zu den Kriterien, die sie als charakteristisch für Künstlerbücher auflistet, gehört, dass sie formal innovativ oder der Versuch sind, mit der Idee des Buches ein künstlerisches Konzept umzusetzen. Nach Johanna Drucker sind sie Werke im eigentlichen Sinn und keine Produktionen, sie sind Visionen keine Produkte.

Ein Künstlerbuch ist ein Werk der Kunst. Es ist kein Verlagsprodukt.

Das „Fernöstlichen Schmausbuch“ (2002) ist eine typographisch-philosophische Rezeptsammlung. Rezepte aus dem asiatischen Raum sind kombiniert mit Aphorismen und Weisheiten aus derselben Region, die sich mit Essen und Trinken befassen. edruckt wurde auf Papier in den Farben von Ingwer und Zimt – beides Gewürze, die in den Rezepten verwendet werden. Die Einbandstoffe tragen Motive zum Beispiel in den Farben der verwendeten Gewürze

oder mit Darstellungen von Pfauen, die im asiatischen Raum heimisch sind. Auch das Buch „MenschenWürdeRechte“ (2005) ist in Farbigkeit, Funktionalität und visueller Umsetzung untrennbar auf seinen Inhalt bezogen.

Das Künstlerbuch kann auch angesehen werden als eine Werkform, die eines der grundlegenden frühen Ideale des Bauhaus verkörpert. Im Künstlerbuch werden Kunst und Handwerk eins. Die Kunst, der visualisierte Inhalt, geht die Verbindung ein mit dem Handwerk, das Form und Funktionalität herstellt.

Der künstlerische Geist steuert Idee, Konzeption, Inhalt und Gestaltung bei, das handwerkliche Geschick sorgt für das Greifbare: die Form und das Funktionieren.

So gesehen wird die Buchkunst zum archätypischen Kunstformat, in dem die Trennung zwischen der freien Kunst und dem Handwerk nicht vorhanden ist.

Für Walter Gropius, den Archtitekten, war das Bauwerk ultimatives Resultat kreativen menschlichen Schaffens, in dem Kunst und Handwerk ineinander aufgehen. Das Künstlerbuch ist in dieser Hinsicht dem Bauwerk analog. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Äußerlichkeiten machen nicht den Unterschied. Der Unterschied schafft das unverwechselbare Äußere.

Auch das Werk „Nichts bleibt wie es war“ (2021) ist in seiner Umsetzung Ausdruck seines Inhaltes. Das Künstlerbuch ist eine Hommage an Lyonel Feininger (1871-1956) zu seinem 150. Geburtstag und an Henri Bergson (1859-1941) gleichermaßen. Die Philosophie Henri Bergsons, in der er darlegt, dass sich jeder Moment unauslöschlich in unser Leben einschreibt und uns dadurch verändert, wird verbunden mit der Idee des Kubismus, der zeitlich und räumlich getrennte Facetten eines Motives nebeneinander stellt. Das ganze Werk ist wie eine Collage aus Facetten zusammengesetzt: die Typographie wandelt sich, verschiedene Papiere und Seitenformate wechseln sich ab.

Der Facettencharakter zeigt sich auch in der Formensprache der Originalgraphiken, Farblinolschnitte von Windmühlen, die Kronen der begleitenden Bäume gefüllt mit allen Jahreszeiten. Die Windmühle ist dabei das Symbol für die Veränderung, für den Wandel an sich.

 

Das Künstlerbuch ist ein Kunstwerk und es steht damit auf Augenhöhe mit dem Gemälde und der Skulptur. Es ist das Werk eines künstlerischen Geistes, die Interpretation eines Themas, einer Erfahrung, einer Begegnung, und als Kunstwerk ist es das Angebot, oder eine Einladung, wenn man so will, an den Betrachter, sich auf diese Interpretation einzulassen und auf das Abenteuer, den eigenen Horizont zu erweitern. Artist‘s Statement – Annette C. Dißlin

 

Zum Lesen

Johanna Drucker „The Century of Artists‘ Books“, Granary Books, 1995, New York, ISBN 1-887123-01-6

Die Künstlerbücher, auf die Bezug genommen wird:

MenschenWürdeRechte

Mir fehlt ein Wort

Paul Klee – Der Pfeil

Nichts bleibt wie es war

 

Wird fortgesetzt – nächste Folge am 7. Juni 2024

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert