Über Handwerk

Vor langer Zeit, als es noch keine Maschinen gab, waren alle Dinge von Hand gefertigt: Töpfe, Schuhe, Möbel, Papierbogen, Bücher, Werkzeug. Alles musste von Hand hergestellt werden, einen anderen Weg gab es nicht. Damit die Dinge das leisteten, wozu man sie brauchte, mussten sie auch solide und zweckmäßig gefertigt sein. Deshalb musste die Person, die diese Dinge einmal machen können sollte, lernen wie das geht. Die Person musste in die Lehre gehen. Jahre hat das gedauert. Wer seine Prüfung am Ende bestand, durfte sich Geselle nennen. Die Besten unter ihnen durften auf die Walz gehen, später die Meisterprüfung ablegen und dann selbst einen Handwerksbetrieb führen und Lehrlinge ausbilden.

Dann wurden Maschinen erfunden. Immer mehr Dinge wurden maschinell hergestellt: Töpfe, Schuhe, Möbel, Papierbogen, Bücher, Werkzeug. Damit sie maschinell gefertigt werden konnten, mussten manche Dinge schlichter werden, man musste Zugeständnisse beim Material und bei der Ausführung machen. Die Produktion wurde standardisiert, vereinfacht – die Dinge wurden billiger, auch weil die Maschine in kürzerer Zeit mehr Stückzahl produzieren konnte als der Handwerker.

Werkzeuge des Schriftsetzers für den Handsatz von Bleischriften

Die Kunden fragten sich, weshalb sie für die Ware des Handwerkers mehr bezahlen sollten, wenn sie doch die maschinell hergestellte Ware so viel billiger haben konnten.

Das Werkzeug des Handbuchbinders

Ja – weshalb eigentlich?

Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen handwerklich und maschinell hergestellten Dingen. Der handwerklich geschulte Mensch hat auch heute noch mehr Optionen als die Maschine, hat mehr Freiheiten zu gestalten, kann eher auch empfindliche Materialien einsetzen. Oft sind handwerklich gearbeitete Gegenstände auch langlebiger.

Stehsatz eines Busfahrscheins, handgesetzt aus Bleilettern und Messinglinien, ausgebunden zum Aufheben für eine nächste Auflage

Wir wollen unseren Blick aber auf etwas anderes richten.

Ein handwerklich gefertigtes Stück ist Lebenszeit, die eine feste Form angenommen hat, die in das Werkstück eingeflossen ist.
Ein Mensch hat Jahre seines Lebens darauf verwendet, sich die Kenntnisse, das Wissen und die Fertigkeiten anzueignen, die nötig sind, um den Gegenstand fachkundig fertigen zu können. Dann hat dieser Mensch eine gewisse Spanne seines Lebens darauf verwendet, diesen einen Gegenstand zu fertigen: einen Topf, ein Paar Schuhe, einen Schrank, einen Bogen Papier, ein Buch, eine Säge.

Arbeit an einer Heftlade: Buchblocks werden von Hand geheftet mit Leinenzwirn

In diesem Gegenstand steckt das Wertvollste, das ein Mensch zur Verfügung hat: seine Lebenszeit. Jede Minute, jede Stunde eines Lebens, die vergangen ist, ist unwiederbringlich vorüber. Und im Handwerk ist sie eingeflossen in die Arbeit dieses Menschen, und damit auch eingebettet in den von Hand gefertigten Gegenstand. Das macht diesen Gegenstand zu etwas Einmaligem. Es gibt keinen zweiten Gegenstand, in den diese Zeit geflossen ist. Und mit jedem Topf, jedem Schuh, jedem Stuhl, jedem Bogen Papier, jedem Buch, jedem Messer, das eine Person mit ihren eigenen Händen herstellt, erlangt sie mehr Erfahrung, mehr Fingerfertigkeit, wird besser. Und diese Entwicklung geht ebenfalls ein in jeden von Hand gefertigten Gegenstand.

Das Spiel „Wer hat Angst vorm langen s?“: eine Erinnerungsspiel über Schriften, bei dem alle Kärtchen vollständig von Hand gefertigt sind

Auch deshalb ist jedes handgefertigte Stück ein Unikat. Das mag für den Gebrauch des Stückes nicht relevant scheinen. Für die Wertschätzung, die wir diesem Stück schulden, ist es sehr wohl relevant. Denn beide verdienen unseren Respekt – sowohl das handgefertigte Stück als auch der Mensch, der willens und bereit war, seine Lebenszeit darauf zu verwenden, dieses Stück zu fertigen.

Handgemachte Notizbücher, Einbände von alten Taschenbüchern wurden dazu verwendet – Upcycling

Wir müssen wieder lernen, Respekt zu haben vor der Arbeit, die jemand geleistet hat – mit seinen eigenen Händen, in seiner eigenen Zeit. Und wir müssen wieder lernen Respekt zu haben dafür, dass jemand bereit war, sich die Zeit zu nehmen, sein Handwerk zu lernen. Und etwas zu fertigen, das wir verwenden können und das uns Freude macht. Eine geschmiedete Pfanne, ein Paar Schuhe, einen Tisch, einen fein gewebten Stoff, ein Buch, eine Teekanne.

Handgefertigtes Buch mit einem Einband von einem alten Taschenbuch, koptische Heftung – Upcycling

Und das ist der eigentliche Grund, weshalb wir bereit sein sollten, für ein handgemachtes Stück mehr zu bezahlen als für ein maschinell gefertigtes. Es enthält etwas, das unwiederbringlich ist: die Lebenszeit eines Menschen.

Zum Lesen

The Craftsman, by Richard Sennett, penguin books, 2008, London

Handwerk, Richard Sennett, 2009, Berlin Verlag

Wird fortgesetzt – nächste Folge am 13. Juni 2024

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